Mittwoch, 15. September 2010

Brief an W.

(02/2006)

Mein lieber Freund,
seit mehr als zehn Jahren haben wir uns nicht mehr gegenüber gestanden, gemeinsam Bier getrunken oder einfach nur gelacht. Zehn Jahre sind eine ganz schön lange Zeit!

Bei den Bildern, die ich von Dir im Gedächtnis habe, dominieren immer wieder die Selben: In der zweiten oder dritten Klasse liege ich nach einem ordentlichen Haken in die Magengegend im Schulflur. Oder, ich sehe Dich, wie Du mir beim Pantha-Rhei-Konzert auf dem kleinen Bunkerberg (es war während  d e r  Weltfestspiele) beim gestöhnten Titel "Play With Fire" sagst:"Wir können uns nachher das Original anhören und auch alle anderen Stones-Titel".
...und Deine Morgenzigarette noch auf dem Bettrand im alten Haus bei Tante Friedel. Und die Nächte bei Dir zu Hause mit Musik, Berliner Spezial und Cabinet. Und niemals kamen Deine Eltern rein: "Macht die Idiotenmusik sofort leiser!". Du weißt genau, warum ich jetzt gerade schmunzeln muss, obwohl ich bei diesen Erinnerungen eigentlich ganz traurig werde...

"You Can't Always Get What You Want" stand über Deiner Tür, und diese Jagger-Weisheit ist eigentlich auch mein Leitspruch geworden. Neben dem Ofen stand "Are You Know You Are A Living Wreck". Oh ja, nach dem dritten Bier verstand ich damals auch dieses Motto ganz genau. Mann, das ist jetzt schon über dreißig Jahre her...

Ich vermisse die offenen, kontroversen Diskussionen mit Dir, besonders aber die Ausflüge mit unseren Frauen und Kindern nach Stralau oder nur in den Hain.
Viel Zeit ist vergangen, und ich vermute, solch eine innige und offene Jugendfreundschaft ist nicht wiederholbar. Ganz bestimmt war es ein Glücksfall, Dich zu treffen. Vielleicht ist man aber auch im Erwachsenenalter insgesamt distanzierter und vorsichtiger mit den eigenen Gefühlen.
...und ich weiß ganz genau, auch Andere vermissen Dich sehr.
Zehn Jahre sind jedenfalls nicht lang genug, den Schmerz und die Trauer zu vergessen.

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