Mittwoch, 22. Juni 2011

Die Ursachenabschaltung

(07/1984 aus "Die Treppe ins Jenseits")

Es fing ganz harmlos an vor vierzehn Tagen.
Ab Montag nachmittag wurde Smog-Alarm Stufe III ausgerufen. Fast alltäglich, in keiner Weise beunruhigend.
Ich blickte aus meinem Büro, welches oberhalb der Dunstglocke lag und versuchte, die Schleier mit meinen Blicken zu durchdringen. Alles war normal. Die Luft stand still, würde jedoch wie allabendlich vom Meer her auffrischen, die belastete Luft in alle Winde verblasen.

Kurz vor dem verdienten Feierabend wurde mir noch eine Mappe zur Unterschrift vorgelegt. Eilig, mit dem einen Arm schon im Jackett, unterschrieb ich und lief dann zum Lift, der mich in die Tiefgarage bringen sollte.
Das Blinken der Etagenlämpchen zeigte jedoch Ausfall an.Ich berührte den Kontrollsensor und ließ den Lift lokalisieren: Eingangshalle.

Innerlich war ich froh, mich mal wieder bewegen zu können. Ohne die anderen Aufzüge abzulaufen betrat ich den Treppentrakt uns sprang, immer zwei Stufen nehmend, von Etage zu Etage.
Nur meine Schritte hallten über die laut schallenden Treppen aus geglättetem Beton. Ich wollte gerade ansetzen, ein Liedchen aus meiner Kindheit zu pfeifen, als mir die Kontrollkameras ins Auge fielen. Einer möglicherweise zu erwartenden psychoanalytischen Befragung wollte ich vorbeugen. In meiner Position gäbe es dafür keine Rechtfertigung. Ich habe ein Mensch nüchterner Logik zu sein! Gefühle beeinträchtigen nur mein Entscheidungsvermögen.

Während meiner Überlegungen drosselte ich gleichsam mein Tempo. Jetzt war ich wohl wieder das Abbild der Seriosität selbst.

Mehr gibt es zu diesem Tag - ich glaube es war der Einundzwanzigste - nicht zu sagen, außer, dass am späten Abend noch Warnstufe II ausgerufen wurde...
Dauernd wurde für diese Mittelung das Abendprogramm unterbrochen. Als ungewöhnlich empfand ich noch, dass sich der Telemediator nicht abschalten ließ: Johann, so nenne ich scherzhaft meinen Appartementcomputer, beließ den Bildschirm auf der Wartefrequenz, was ich an dem unaufdringlichen dynamischen Farbspektrum erkennen konnte. Meine Ruhe würde dieses bunte Gewalle jedenfalls nicht stören.

Wegen meiner allabendlichen Vier-Stunden-Schlaf-Droge bemerkte ich den Kommunikationsaufruf erst nach dem Wecken. Nach dem Drücken der Bereitschaftstaste erschienen die üblichen Ziffern auf dem Monitor: Datum, Uhrzeit, Appartementnummer, meine persönliche Kennzahl und zwölf weitere mir unbekannte Klassifikationskennziffern.
Welche Informationen würden sich dahinter verbergen?
Ich konnte nicht lange überlegen, denn es folgte die als wichtig deklarierte Meldung:

Band: Z 32.
Zustand: Überschreitung der Warnklasse.
Empfängerkreis: 200.150/e bis 350.000/k.
Ansprechzeit: variabel.
Achtung! Wichtige Information!
Die Smog-Warnstufe I wurde um 00:10 Uhr erreicht.
Grenzwertüberschreitung bereits 01:02 Uhr.
Steuerungsmaßnahmen eingeleitet.
Erläuterungen diesbezüglich über Anfragecode.
Ende der Information.


Mit dieser Mitteilung konnte ich nicht viel anfangen. Um ehrlich zu sein: eigentlich interessierten mich die Einzelheiten auch gar nicht. Mein Interesse galt lediglich meiner persönlichen Kennzahl.
Ich beauftragte Johann, die Internaufzeichnung abzurufen.
Eigenartig war, dass die mich beschäftigenden zwölf Endziffern in der Kopie fehlten.
Was war nur los mit mir? Woher sollte diese nervliche Überlastung kommen?

Als ich ins Büro wollte, stellte ich fest, dass mein Wohnappartement isoliert war. Das Videophon war tot, und Johann ließ nur über Anfragecode Befehle gelten.
Ich war also eingesperrt, abgeschieden, stumm und taub und blind...
Leider hatte man das Gefühl mir gelassen. Ich hatte Angst, eine grausige Angst, ohne eine reale Zuordnung treffen zu können.

Recht schnell hatte ich mich wieder gefangen. Über Anfragecode erfuhr ich zunächst, dass ich nur in begrenztem Umfange Informationen erhalten würde. Und diese Infos waren lediglich mein Verhalten betreffende Regeln, im Wesentlichen der Befehl, abzuwarten...
Fragen nach der Art oder der Ursache der vermeintlichen Bedrohung quittierte der Computer mit der lakonischen Leuchtschrift:

Nicht zulässig!.

Ich saß also in meiner Box. Die Fensterverdunkelung wurde nicht aufgehoben, und die Zimmerbeleuchtung war auf Sparschaltung geregelt, die Klimaanlage arbeitet auf Minimallast. Krampfhaft kramte ich in meinem Gedächtnis nach eventuellen Gründen. Ich las auch sehr viel in meiner altmodischen, letzt allerdings nützlichen, Papierbibliothek. Appetit hatte ich kaum, freute mich jedoch jedes Mal über das Funktionieren des Versorgungskanals bei der Auswahl von Speisen und Getränken.
Was konnte nur diese Situation ausgelöst haben?!
Mehr noch beunruhigte mich die Frage, ob unsere Gesellschaft überhaupt ohne mich funktionieren kann. Was wäre, wenn sie ganz ohne Menschen auskäme???
Mir wurde übel bei dem Gedanken: Eine Datenpanne...?



Heute ist, glaube ich, der fünfte August. Dieses Warten ist zu einer elenden Qual geworden. Es gibt nur noch ein Essen, die sogenannte Katastrophenration und dazu vollsynthetischen Orangenjuice. Spartanisch!
Mehrmals täglich gibt es Stromausfälle. Johann ist inzwischen völlig verstummt. Ich habe Angst, dass sich dieser zustand bis zum Extremum verschlimmern wird.

Erster September. Seit drei Tagen ohne Essen. Gestern hatte ich mir noch eine Kanne Wasser abfüllen können. Ich teile mir das kostbare Nass gut ein, ...will drei, vier Tage reichen.
Die Luft ist unerträglich geworden. Wenn ich nicht schon zu schwach wäre, würde ich gegen die Wände rennen!

Ich schreibe "10. September", bin mir dessen aber nicht sicher. Mein Wasser hat bis vorgestern gereicht. Bin so müde.
Irgendwie spukt mir die Antwort auf meine Fragen durch den Kopf.
Ich kann die Gedanken nur nicht... nicht ordnen.
Umweltschutzprogramm, Zentraleinheit, Ursachenabschaltung, Ursache ...Mensch!

Ich hab' wohl mehrere Tage in einem Dämmerzustand gelegen. Mein Zeitgefühl ist völlig verkümmert. Schluss machen will ich aber nicht. Irgendwann wird man mich hier schon rausholen.
Bin ich müde!
Ich lege mich auch gleich wieder hin.
Schlafen, nur schlafen...