Dienstag, 25. Oktober 2011

Ein Angelausflug

(01/1984 aus "Die Treppe ins Jenseits")

Lange schon ging mir kein Fisch an den Haken. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf! Mein Geist ist so gezwungen, immer besser ausgetüftelte Versionen zu ersinnen, die die Schwachstellen der erfolglosen Petripirschen abstellen sollen.

Meine Ausrüstung ist perfekt, enthält alle notwendigen Dinge, sowie eine Vielzahl Nonsens, an dessen Gebrauch man sich im Laufe der Zeit gewöhnt hat und diese Dinge jetzt selbst als unentbehrlich ansieht.

Meine Frau bereitet gerade das Abendessen. Mir fiel heute zu, unserem Sahn das Gute-Nacht-Lied zu singen. Jetzt, da der Kleine schon schläft, sitze ich in unserem großen Zimmer auf dem Fußboden und montiere meine Angeln. Ich suche die entsprechenden Posen aus, die Haken, tariere mit Hilfe eines Wassereimers und winzigen Bleischroten die richtige Schwimmlage, knote, schneide und betrachte danach meine fertigen Instrumente mit Wohlwollen.

Sorgsam werden die Segmente getrennt und in entsprechende Taschen eingelegt. Ich ordne den Inhalt von Beuteln und Taschen, ordne die Beutel und Taschen selbst und stelle alles in einer sonderbaren Ordnung auf den Korridor, griffbereit.

Wir essen unser Abendbrot, schwatzen und bereden die Zubereitung des Fisches, der morgen unser Mittagessen darstellen soll. Meine Frau scherzt drohend, dass wenn ich wieder ohne Fisch kommen sollte, sie sicher meine Angeln verkaufen würde.
Ganz selbsttbewusst erkläre ich ihr, dass ein Misserfolg ausgeschlossen sei, dass der auf der Karte ausgewählte kleine See, abgelegen, schwer zugänglich, den großen Fisch, von dem ich schon ewig träume, bringen muss!

Ich habe noch etwas Zeit, schaue dem Kaffee zu, der durch den Filter tröpfelt, rauche dabei noch in Ruhe eine Zigarette und gehe nochmals in Gedanken alle Ausrüstungspositionen durch, zähle auf, kontrolliere auf Vollständigkeit.
Der Proviantkorb steht vor mir, scheinbar auf die Thermoskanne wartend. Eine Taschenlampe wird griffbereit verstaut. Die verbleibende Zeit des Wartens nutze ich, um (überflüssiger Weise) noch einmal das große Fischmesser zu schärfen. Die Schneide wird geprüft, und ganz vorsichtig wird die Plastehülle angelegt..., während meine Sinne gespannt auf das baldige Klingeln warten.

Wir brauchten lange, ehe die Stadt hinter uns verschwand. Je weiter wir uns vom Zentrum entfernten, desto leerer wurden die Fahrbahnen. Selten nur kam uns ein Auto entgegen, und wenn, dann nur ein riesiger Ferntransporter. In der Leere lag schon etwas Freiheit. Die Pulsation der nervösen Zivilisation verlor sich hier zwischen den mehr und mehr zusammenwachsenden Großstädten.
Wir hatten keine Eile: bis eine Stunde vor Sonnenaufgang würden wir sicher an Ort und Stelle sein, auf das Glucksen des im Dunklen verborgenen Sees achten, den aufwachenden Vögeln lauschen...

Ich breitete die Karte aus und versuchte im Schein einer kleinen Stablampe unsere Position auszumachen.
Wir waren richtig! Nur noch ein paar Kilometer auf diesem holprigen Feldweg (in der Karte allerdings als Waldweg eingetragen) und dann noch ein Stück zu Fuß bis an unser Ziel...

Im wippenden Scheinwerferkegel tauchte schemenhaft ein Schild in unser Blickfeld. Wir machten uns nicht einmal die Mühe, den text zu entziffern. Wir kamen auch ohne Wegweiser ans Ziel!

Nach etwas mehr als einer Zigarettenlänge ließen wir unmittelbar unter einer einsamen Baumgruppe den Wagen stehen. Wir zwei behängten uns mit den mitgebrachten Utensilien: verpackte Angeln, Rucksäcke, Beutel, große Kescher, Proviant und Regenzeug. So geschmückt stiefelten wir in die ausgemachte Richtung.
Der Boden gab bei jedem Schritt schmatzende Geräusche von sich. Die an Jalousieband aufgehängten Gerätschaften baumelten im Takt unserer Schritte und entließen ab und zu ein Klirren und Poltern, das mit dem Schmatzen des aufgeweichten Bodens eine Melodie ergab, die hervorragend zur Kulisse eines Horrorfilms gepasst hätte.
Der Himmel schien tief verhangen, so dass kein Lichtschimmer uns den Weg wies. Desöfteren ließen wir deshalb unsere Handlampen aufleuchten, immer dann, wenn wir meinten, ein Hindernis müsse vor uns sein. Kurzzeitig drang dann ein Bruchstück einer eigenartigen Welt auf uns ein. Eine Welt, seltsam kahl: kahl an Vegetation, kahl auch an anderen Unebenheiten des Bodens. Der Fahrweg vorhin schien alle Erdhuckel der Umgebung aufgesaugt zu haben...

Es kam Nebel auf, der die Sicht, trotz der fast gleichzeitig eingetretenen nichtlokalisierbaren Quelle diffusen Lichts, verminderte. Ein gutes Zeichen, wenn dadurch die Nähe des Wassers angekündigt würde.

Tatsächlich waren wir gleich darauf am See. Ich trat beinahe noch hinein, denn ohne typische Uferböschung begann übergangslos die unbewegte, spiegelglatte Oberfläche des flüssigen Mediums.
Auf der Suche nach einer geeigneten Angelstelle zogen wir eine Weile an dieser Trennlinie entlang, ohne die kleinste Veränderung der Landschaft zu bemerken.
Bald musste sich der Morgen ankündigen, und dann sollten schon die Köder den Fischen vor den Mäulern tanzen.

Pause, Stopp, Schluss!
Auf einem einigermaßen trockenen Platz legten wir unsere Sachen ab. Rutenhalter wurden montiert, Ruten zusammengesteckt, beködert, ausgeworfen. Alle Tragbehälter wurden geordnet, die Hocker aufgestellt, dampfender Kaffee in zwei Blechbecher gegossen.

Die Umgebung war dermaßen geräuschlos, dass man das eigene Atmen als laut empfand, Schluckgeräusche sogar störend wirkten.
Wir redeten leise miteinander, redeten um die Stille zu verdrängen, die so unerklärlich,ja unheimlich zugegen war. Wir sprachen von den Schwierigkeiten, Köder zu beschaffen. An Würmer war schon gar nicht zu denken... Ich weiß nicht, wer von uns die Idee mit dem Speck hatte...

Der Dunst lichtete sich merklich, als der Morgen anfing, aus der Nacht hervor zu kriechen.
Wir konnten jetzt schon unsere Posen erahnen, vielleicht sogar sehen.
Das Wasser glich einer polierten Scheibe, bar jeder Bewegung, ohne das normale feine Gekräusel an der Oberfläche. Kein Springen der Jäger und Gejagten unter den Schuppentieren war zu beobachten.
Wir holten unsere Köder ein, das Vertrauen in die klingelnden Bissanzeiger verloren. Was da aber noch am Haken hing, hatte alle Ähnlichkeit mit Speck verloren. Ein weicher fettiger Schwamm klebte am Haken, hing nach dem Herausziehen wie feuchte Watte.
Wir sahen uns an, wussten sofort, der See war tot, wahrscheinlich vergiftet, stark sauer oder alkalisch, radioaktiv oder schwermetallbelastet, ohne Fische , ohne Pflanzen, sogar ohne die Anfangsglieder der Nahrungskette.
Die todsichere Stelle war ein Reinfall, ein verseuchtes Loch.
Eine Hoffung schwand.
Wir würden wieder die bewirtschafteten Verbandsseen beangeln, deren Ufer von synthetischem Grün dekoriert sind, deren winzige Satzfische von Aufsehern regelmäßig gefüttert werden mussten.
Wir sollten endlich unsere Wunschvorstellungen verdrängen!

Auf dem Rückweg sprachen wir über das nächste Wochenende. Diesmal hatte ich die Aufgabe, einen unberührten Flecken auf der Karte auszusuchen.
Wieder würden wir des Nachts losziehen, die ganze Zeit hoffend, der Morgen würde unsere Illusion bewahren...