Freitag, 1. Juli 2011

Pusteblume

(12/1983 aus "Die Treppe ins Jenseits")

Der Redner beendete seinen Vortrag zum Thema "Ökologie und Wirtschaftswachstum" schneller als geplant: lautstark drückte die Mehrzahl der Zuhörer ihr Missfallen aus.
Verständlicher Weise wurde deshalb auch auf eine Abschlussdiskussion verzichtet...

Über einen Hinterausgang führten pflichtgemäß einige Ordnungshüter den Wissenschaftler zu einem bereitstehenden Fahrzeug, nicht ohne gleichfalls ihre Ablehnung zum vorher Gehörten kundzutun. Zwar höflich, aber unmissverständlich.
Im Wagen wurde er dann sehr nachsichtig behandelt; wie man mit einem Kranken umgeht, oder wie mit jemanden, den man in die Ausnüchterungszelle bringt. Routiniert wurde wohlakzentuiert, jede Silbe hervorhebend, auf ihn eingeredet, den nichtssagenden Inhalt dabei mehrmals wiederholend.

Herr K. ließ es geschehen, ohne selbst aktiv an dem Gespräch teilzunehmen, dachte an den morgigen Tag: an einen erneut bevorstehenden Namenswechsel, an den Umzug mit seinen wenigen Sachen..., schon oftmals geprobt.

K. dachte auch an die überaus großzügige Vorgehensweise der Regionalleitung, die ihm, einem Biologen, die Möglichkeit der Kontaktsuche gewährt. Sein Gesicht verzog sich kurz zu einem faden Lächeln, als er an die letzten Alchimisten dachte, an die Parallelen zu seinem eigenen Dasein.

Am Block 18-IV, seinem momentanen Zuhause angekommen, begleitete ihn ein Wächter bis zum Expresslift und verabschiedete sich diskret nickend. Der Biologe K. fuhr in den siebenundachtzigsten Stock, öffnete vorsichtig die Appartementtür und verschwand, nachdem nichts Verdächtiges zu erpähen war, im Innern. Er unterließ es, den Raumbildprojektor einzuschalten, nahm stattdessen in einer spärlich beleuchteten Ecke Platz und überflog nochmals seinen Vortrag.
In ihm saß die Illusion fest, nicht der Inhalt, sondern seine etwas harten Formulierungen seien jedesmal am Tumult schuld, und beim abermaligen Durchgehen würde er die verantwortlichen Textstellen finden und umformulieren.

K. saß da und las.
Er las den Vortrag, seinen zu Papier gebrachten Aufschrei, den er, käme es darauf an, sicher auswendig beherrschen würde.
Dünnes Licht fiel aus einem Glaskasten mit spärlichem Grün auf die bekritzelten Seiten, abermals und abermals kopiert... Kopien der Kopien.
Auch diese würde er noch heute in den Kopierer legen müssen, da der kurze Freiluftaufenthalt genügte, das Papier zu verschleißen.

Vorsichtig nahm er die gelesenen Blätter und balancierte, auf Papierkrümel tretend an das Gerät der Marke XEROFAX, auf dessen Bildschirm schon die Worte flimmerten:

FÜR PRIVATE NUTZUNG GESPERRT
CODE 000-ZERO


Der Biologe verschloss seinen Blick gegenüber dieser Leuchtschrift und betätigte wieder und wieder den Druckerknopf, probierte andere Hebel und Knöpfe, öffnete dann sogar die Verkleidung des Gerätes, bis endlich die Bedeutung des Wortlautes in sein Gehirn vordrang,
...die unsichtbare Schranke überwunden.

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Verzweifelt gibt er es auf, dem Gerät Befehle erteilen zu wollen. Er begibt sich in seine Leseecke und holt von dort das kleine Glasgefäß, welches sich mühelos auf einer Handfläche transportieren lässt, öffnet mit der freien Hand die Klappe, die den Energieblock freigibt.

Ein Mann des kleinen Reinigungstrupps, der mit dem Einschweißen der Leiche beschäftigt ist, hebt eine Scherbe vom Boden auf. Eine Scherbe mit der wasserfesten Aufschrift "taraxacum officinale"...