Montag, 4. Februar 2013

Ostsee 2013

(01/2013)

Für uns Berliner lag ja die Ostsee schon immer 'oben', also im Norden, obwohl es ja hierbei schon ewig Missverständnisse gab und gibt, die wohl auch niemals ausgeräumt sein werden. Nämlich der Thüringer fuhr auch nach 'oben', obwohl er ja nach 'unten' fuhr, wenn Muttern Wäsche waschen sollte...
Die Wochenenden im Internat (und natürlich auch die Wochen drum herum) verbrachten wir trotzdem in guter Eintracht. Dialekte wurden gepflegt, der Eine oder Andere wurde wegen besonderer Ausdrücke ab und an veralbert (Feudel, Schrippe, aufwaschen, je nach dem...), gleichzeitig wurde per Wohnheimumfrage ermittelt, wie viele Bezeichnungen in der winzigen DDR für Bumskeulen (Typha latifolia) üblich waren. Fast achtzig (!) unterschiedliche Vokabeln haben wir ermitteln können. Einfach grandios!

Inzwischen haben alle Bärte (na ja, die Frauen noch nicht) und man ist nicht mehr so gut mit dem Durchsfensterklettern. Auch verträgt fast jeder nur noch die Hälfte Bier. Ein Hechtsprung nach zwei selbst destillierten und selbst gemixten Getränken? Fehlanzeige. Natürlich gibt es auch kein 'Mädchenflurverbot' mehr, und 'Bewährung vor dem Studium' in Leuna oder Buna werden kaum noch angedroht.
Die echte Freiheit hat uns erwischt, und das bereits vor über zwanzig Jahren.

Man kann nach Prag fahren, ohne an den Maximalumtausch von ČKr 60,- denken zu müssen. Man benötigt keine Zeiss-Objektive, Smalkalda-Werkzeuge oder Widiabohrer für den Naturalienhandel im sozialistischen Ausland. Und jetzt kommt's: Sogar die Fischköppe lassen einen heutzutage rein. Man muss auch nicht mehr im Stall der zeitweilig ausquartierten Hühner oder Hasen schlafen. Man muss sich nicht mit Edelerzeugnissen, die es meist nur in der Hauptstadt gab, einkaufen: Rostocker Pflaumenmus, Ketchup aus Werder, Cabinet, Spee gekörnt...
Allerdings gibt es da oben kein bitteres Hafenbräu mehr. Schade eigentlich.
Dafür stehen die sonst so maulfaulen Fischer auf ihren Kähnen auf der Warnow und quatschen die Leute voll, entweder leckere Fischbrötchen zum Preis eines Kleinwagens zu erwerben, oder Riesendorsche selbst einzufangen. Letzteres kostet fast nix, nur man muss eisgekühltes Beck's trinken, und dieser Preis ist wahrlich ziemlich hoch!

Es hat sich schon viel getan, auch wenn außerhalb der Saison 96 Prozent der Restaurants geschlossen sind. Die verbleibenden vier Prozent repräsentieren aber meist auch eine ganz passable Küche. Und eng wird es dennoch nicht, da sich ja gerade im Winter da oben Hase und Fuchs 'Gute Nacht' sagen. Aber mancher will das ja so.
Wird es zu voll, wird sogar abgereist!

Man muss sich da oben schon ganz schön was einfallen lassen, will man es immer (oder öfter, also immer öfter) voll haben. Auf die, die die Einsamkeit mögen, wird man dann verzichten (müssen), aber sind diese überhaupt die umsatzstarken Touristen? Na gut, Kurtaxe muss jeder blechen, auch wenn die Klos verschlossen sind, keine Mülleimer an der Promenade rumstehen, nicht genügend Schnee vorhanden ist.
Aber dennoch soll es immer schön voll sein. Da tummeln sich also Italiener mit Eis und Kaffee und Pizza, Dönerrestaurants gänzlich ohne Tischdekoration, Fischbratereien oder
-räuchereien mit eigenem Kutter neben beheizten Punschiglus, Bratwurstbuden, mobilen Sanddornglühweinverkäufern mit 'nem Schuss extra. Dauernd pendeln die Genüsse, hin- und hergerissen zwischen Omega-3- und Omega-6-Fettsäuren, Schweinefett und Alkohol.
Danach hat man immer noch Hunger und vertilgt im Kino eine riesige Popcornportion und 'n Flens. Der suchende Tourist, der nach einheimischen Bier fragt, wird zuerst mitleidig angesehen, ehe man kopfschüttelnder Weise verschämt zu Boden blickt.



Ein richtiger Wendehals ist aber weder traurig, noch nachtragend! Ich mag Euch da oben, Euren Wind, die Leere, die Kälte, das Gebrabbel, das Kopfschütteln und manchmal sogar die anderen Touris, die da durch die Lande irren, die lauten Berliner, die freundlichen Sachsen.
Nur, wen ich in Zukunft im einsamen Wald zum Zeichen des Friedens grüßen werde, überlege ich mir ganz genau, denn nicht noch einmal möchte ich angebrüllt werden: "Kenn mia unz?!".