Freitag, 11. November 2011

Vierzehnuhrversammlung

(03/2011)

Vierzehnuhrversammlung!
Eigentlich ist das die Zeit des berühmten Suppenkomas. Wer zu dieser Zeit Vorträge zu halten hat, weiß, was ich meine.
Man sieht sich schlafenden Zuhörern gegenüber. Ein dickes Fell ist hierbei schon vonnöten, um nicht den roten Faden zu verlieren.
Aber die Pennratze bekommen durchaus auch was mit.
Ja, einmal hatte ich einen Schnarcher, der am Ende die interessantesten Fragen stellte.

Eventuell ist das arzttypisch - geschuldet den Nachtdiensten. Persönlichkeiten, die sich beispielsweise sogenannte Exzellenzcluster ausdenken, können das eben. Und der Vortragende hat ohnehin genügend Stresshormon im Blut, um nicht wegzunicken, zumal so mancher ein echter Vortänzer ist, der locker sechs, sieben Kilometer in einer Vorlesungseinheit bewältigt...

Ich bin jetzt gerade mal nicht der Langläufer. Nee, zuhören muss ich ...soll ich jedenfalls.
Aber wie bleibe ich wach?!
Augenreiben, Stirnmassage, schmutzige Gedanken?
Wem es peinlich ist, den Kopf auf das Tischchen zu legen, hat ständig die Sitzposition zu wechseln. Wieder schmutzige Gedanken, Freizeitplanung für die Zeit danach.

Susan schreibt gerade in meine Mitschrift: "Ich muss heute shoppen gehen!".
Was meint sie damit? Muss sie Brot kaufen oder Weißwein, Unterwäsche vielleicht oder Suppengrün? Egal - wieder ein paar Gedanken, die dem Zusammensinken etwas Aufschub verschaffen.

Und dann legt sie nach: "Ein Abendkleid und passende Schuhe.".

Na toll!
Ganz ohne weitere Vorankündigung plumpst der Kopf hart auf das Tischchen.

Als man mich weckt, ist die Nachmittagsveranstaltung vorbei.

Dienstag, 25. Oktober 2011

Ein Angelausflug

(01/1984 aus "Die Treppe ins Jenseits")

Lange schon ging mir kein Fisch an den Haken. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf! Mein Geist ist so gezwungen, immer besser ausgetüftelte Versionen zu ersinnen, die die Schwachstellen der erfolglosen Petripirschen abstellen sollen.

Meine Ausrüstung ist perfekt, enthält alle notwendigen Dinge, sowie eine Vielzahl Nonsens, an dessen Gebrauch man sich im Laufe der Zeit gewöhnt hat und diese Dinge jetzt selbst als unentbehrlich ansieht.

Meine Frau bereitet gerade das Abendessen. Mir fiel heute zu, unserem Sahn das Gute-Nacht-Lied zu singen. Jetzt, da der Kleine schon schläft, sitze ich in unserem großen Zimmer auf dem Fußboden und montiere meine Angeln. Ich suche die entsprechenden Posen aus, die Haken, tariere mit Hilfe eines Wassereimers und winzigen Bleischroten die richtige Schwimmlage, knote, schneide und betrachte danach meine fertigen Instrumente mit Wohlwollen.

Sorgsam werden die Segmente getrennt und in entsprechende Taschen eingelegt. Ich ordne den Inhalt von Beuteln und Taschen, ordne die Beutel und Taschen selbst und stelle alles in einer sonderbaren Ordnung auf den Korridor, griffbereit.

Wir essen unser Abendbrot, schwatzen und bereden die Zubereitung des Fisches, der morgen unser Mittagessen darstellen soll. Meine Frau scherzt drohend, dass wenn ich wieder ohne Fisch kommen sollte, sie sicher meine Angeln verkaufen würde.
Ganz selbsttbewusst erkläre ich ihr, dass ein Misserfolg ausgeschlossen sei, dass der auf der Karte ausgewählte kleine See, abgelegen, schwer zugänglich, den großen Fisch, von dem ich schon ewig träume, bringen muss!

Ich habe noch etwas Zeit, schaue dem Kaffee zu, der durch den Filter tröpfelt, rauche dabei noch in Ruhe eine Zigarette und gehe nochmals in Gedanken alle Ausrüstungspositionen durch, zähle auf, kontrolliere auf Vollständigkeit.
Der Proviantkorb steht vor mir, scheinbar auf die Thermoskanne wartend. Eine Taschenlampe wird griffbereit verstaut. Die verbleibende Zeit des Wartens nutze ich, um (überflüssiger Weise) noch einmal das große Fischmesser zu schärfen. Die Schneide wird geprüft, und ganz vorsichtig wird die Plastehülle angelegt..., während meine Sinne gespannt auf das baldige Klingeln warten.

Wir brauchten lange, ehe die Stadt hinter uns verschwand. Je weiter wir uns vom Zentrum entfernten, desto leerer wurden die Fahrbahnen. Selten nur kam uns ein Auto entgegen, und wenn, dann nur ein riesiger Ferntransporter. In der Leere lag schon etwas Freiheit. Die Pulsation der nervösen Zivilisation verlor sich hier zwischen den mehr und mehr zusammenwachsenden Großstädten.
Wir hatten keine Eile: bis eine Stunde vor Sonnenaufgang würden wir sicher an Ort und Stelle sein, auf das Glucksen des im Dunklen verborgenen Sees achten, den aufwachenden Vögeln lauschen...

Ich breitete die Karte aus und versuchte im Schein einer kleinen Stablampe unsere Position auszumachen.
Wir waren richtig! Nur noch ein paar Kilometer auf diesem holprigen Feldweg (in der Karte allerdings als Waldweg eingetragen) und dann noch ein Stück zu Fuß bis an unser Ziel...

Im wippenden Scheinwerferkegel tauchte schemenhaft ein Schild in unser Blickfeld. Wir machten uns nicht einmal die Mühe, den text zu entziffern. Wir kamen auch ohne Wegweiser ans Ziel!

Nach etwas mehr als einer Zigarettenlänge ließen wir unmittelbar unter einer einsamen Baumgruppe den Wagen stehen. Wir zwei behängten uns mit den mitgebrachten Utensilien: verpackte Angeln, Rucksäcke, Beutel, große Kescher, Proviant und Regenzeug. So geschmückt stiefelten wir in die ausgemachte Richtung.
Der Boden gab bei jedem Schritt schmatzende Geräusche von sich. Die an Jalousieband aufgehängten Gerätschaften baumelten im Takt unserer Schritte und entließen ab und zu ein Klirren und Poltern, das mit dem Schmatzen des aufgeweichten Bodens eine Melodie ergab, die hervorragend zur Kulisse eines Horrorfilms gepasst hätte.
Der Himmel schien tief verhangen, so dass kein Lichtschimmer uns den Weg wies. Desöfteren ließen wir deshalb unsere Handlampen aufleuchten, immer dann, wenn wir meinten, ein Hindernis müsse vor uns sein. Kurzzeitig drang dann ein Bruchstück einer eigenartigen Welt auf uns ein. Eine Welt, seltsam kahl: kahl an Vegetation, kahl auch an anderen Unebenheiten des Bodens. Der Fahrweg vorhin schien alle Erdhuckel der Umgebung aufgesaugt zu haben...

Es kam Nebel auf, der die Sicht, trotz der fast gleichzeitig eingetretenen nichtlokalisierbaren Quelle diffusen Lichts, verminderte. Ein gutes Zeichen, wenn dadurch die Nähe des Wassers angekündigt würde.

Tatsächlich waren wir gleich darauf am See. Ich trat beinahe noch hinein, denn ohne typische Uferböschung begann übergangslos die unbewegte, spiegelglatte Oberfläche des flüssigen Mediums.
Auf der Suche nach einer geeigneten Angelstelle zogen wir eine Weile an dieser Trennlinie entlang, ohne die kleinste Veränderung der Landschaft zu bemerken.
Bald musste sich der Morgen ankündigen, und dann sollten schon die Köder den Fischen vor den Mäulern tanzen.

Pause, Stopp, Schluss!
Auf einem einigermaßen trockenen Platz legten wir unsere Sachen ab. Rutenhalter wurden montiert, Ruten zusammengesteckt, beködert, ausgeworfen. Alle Tragbehälter wurden geordnet, die Hocker aufgestellt, dampfender Kaffee in zwei Blechbecher gegossen.

Die Umgebung war dermaßen geräuschlos, dass man das eigene Atmen als laut empfand, Schluckgeräusche sogar störend wirkten.
Wir redeten leise miteinander, redeten um die Stille zu verdrängen, die so unerklärlich,ja unheimlich zugegen war. Wir sprachen von den Schwierigkeiten, Köder zu beschaffen. An Würmer war schon gar nicht zu denken... Ich weiß nicht, wer von uns die Idee mit dem Speck hatte...

Der Dunst lichtete sich merklich, als der Morgen anfing, aus der Nacht hervor zu kriechen.
Wir konnten jetzt schon unsere Posen erahnen, vielleicht sogar sehen.
Das Wasser glich einer polierten Scheibe, bar jeder Bewegung, ohne das normale feine Gekräusel an der Oberfläche. Kein Springen der Jäger und Gejagten unter den Schuppentieren war zu beobachten.
Wir holten unsere Köder ein, das Vertrauen in die klingelnden Bissanzeiger verloren. Was da aber noch am Haken hing, hatte alle Ähnlichkeit mit Speck verloren. Ein weicher fettiger Schwamm klebte am Haken, hing nach dem Herausziehen wie feuchte Watte.
Wir sahen uns an, wussten sofort, der See war tot, wahrscheinlich vergiftet, stark sauer oder alkalisch, radioaktiv oder schwermetallbelastet, ohne Fische , ohne Pflanzen, sogar ohne die Anfangsglieder der Nahrungskette.
Die todsichere Stelle war ein Reinfall, ein verseuchtes Loch.
Eine Hoffung schwand.
Wir würden wieder die bewirtschafteten Verbandsseen beangeln, deren Ufer von synthetischem Grün dekoriert sind, deren winzige Satzfische von Aufsehern regelmäßig gefüttert werden mussten.
Wir sollten endlich unsere Wunschvorstellungen verdrängen!

Auf dem Rückweg sprachen wir über das nächste Wochenende. Diesmal hatte ich die Aufgabe, einen unberührten Flecken auf der Karte auszusuchen.
Wieder würden wir des Nachts losziehen, die ganze Zeit hoffend, der Morgen würde unsere Illusion bewahren...


Freitag, 1. Juli 2011

Pusteblume

(12/1983 aus "Die Treppe ins Jenseits")

Der Redner beendete seinen Vortrag zum Thema "Ökologie und Wirtschaftswachstum" schneller als geplant: lautstark drückte die Mehrzahl der Zuhörer ihr Missfallen aus.
Verständlicher Weise wurde deshalb auch auf eine Abschlussdiskussion verzichtet...

Über einen Hinterausgang führten pflichtgemäß einige Ordnungshüter den Wissenschaftler zu einem bereitstehenden Fahrzeug, nicht ohne gleichfalls ihre Ablehnung zum vorher Gehörten kundzutun. Zwar höflich, aber unmissverständlich.
Im Wagen wurde er dann sehr nachsichtig behandelt; wie man mit einem Kranken umgeht, oder wie mit jemanden, den man in die Ausnüchterungszelle bringt. Routiniert wurde wohlakzentuiert, jede Silbe hervorhebend, auf ihn eingeredet, den nichtssagenden Inhalt dabei mehrmals wiederholend.

Herr K. ließ es geschehen, ohne selbst aktiv an dem Gespräch teilzunehmen, dachte an den morgigen Tag: an einen erneut bevorstehenden Namenswechsel, an den Umzug mit seinen wenigen Sachen..., schon oftmals geprobt.

K. dachte auch an die überaus großzügige Vorgehensweise der Regionalleitung, die ihm, einem Biologen, die Möglichkeit der Kontaktsuche gewährt. Sein Gesicht verzog sich kurz zu einem faden Lächeln, als er an die letzten Alchimisten dachte, an die Parallelen zu seinem eigenen Dasein.

Am Block 18-IV, seinem momentanen Zuhause angekommen, begleitete ihn ein Wächter bis zum Expresslift und verabschiedete sich diskret nickend. Der Biologe K. fuhr in den siebenundachtzigsten Stock, öffnete vorsichtig die Appartementtür und verschwand, nachdem nichts Verdächtiges zu erpähen war, im Innern. Er unterließ es, den Raumbildprojektor einzuschalten, nahm stattdessen in einer spärlich beleuchteten Ecke Platz und überflog nochmals seinen Vortrag.
In ihm saß die Illusion fest, nicht der Inhalt, sondern seine etwas harten Formulierungen seien jedesmal am Tumult schuld, und beim abermaligen Durchgehen würde er die verantwortlichen Textstellen finden und umformulieren.

K. saß da und las.
Er las den Vortrag, seinen zu Papier gebrachten Aufschrei, den er, käme es darauf an, sicher auswendig beherrschen würde.
Dünnes Licht fiel aus einem Glaskasten mit spärlichem Grün auf die bekritzelten Seiten, abermals und abermals kopiert... Kopien der Kopien.
Auch diese würde er noch heute in den Kopierer legen müssen, da der kurze Freiluftaufenthalt genügte, das Papier zu verschleißen.

Vorsichtig nahm er die gelesenen Blätter und balancierte, auf Papierkrümel tretend an das Gerät der Marke XEROFAX, auf dessen Bildschirm schon die Worte flimmerten:

FÜR PRIVATE NUTZUNG GESPERRT
CODE 000-ZERO


Der Biologe verschloss seinen Blick gegenüber dieser Leuchtschrift und betätigte wieder und wieder den Druckerknopf, probierte andere Hebel und Knöpfe, öffnete dann sogar die Verkleidung des Gerätes, bis endlich die Bedeutung des Wortlautes in sein Gehirn vordrang,
...die unsichtbare Schranke überwunden.

                   ---------------
Verzweifelt gibt er es auf, dem Gerät Befehle erteilen zu wollen. Er begibt sich in seine Leseecke und holt von dort das kleine Glasgefäß, welches sich mühelos auf einer Handfläche transportieren lässt, öffnet mit der freien Hand die Klappe, die den Energieblock freigibt.

Ein Mann des kleinen Reinigungstrupps, der mit dem Einschweißen der Leiche beschäftigt ist, hebt eine Scherbe vom Boden auf. Eine Scherbe mit der wasserfesten Aufschrift "taraxacum officinale"...

Mittwoch, 22. Juni 2011

Die Ursachenabschaltung

(07/1984 aus "Die Treppe ins Jenseits")

Es fing ganz harmlos an vor vierzehn Tagen.
Ab Montag nachmittag wurde Smog-Alarm Stufe III ausgerufen. Fast alltäglich, in keiner Weise beunruhigend.
Ich blickte aus meinem Büro, welches oberhalb der Dunstglocke lag und versuchte, die Schleier mit meinen Blicken zu durchdringen. Alles war normal. Die Luft stand still, würde jedoch wie allabendlich vom Meer her auffrischen, die belastete Luft in alle Winde verblasen.

Kurz vor dem verdienten Feierabend wurde mir noch eine Mappe zur Unterschrift vorgelegt. Eilig, mit dem einen Arm schon im Jackett, unterschrieb ich und lief dann zum Lift, der mich in die Tiefgarage bringen sollte.
Das Blinken der Etagenlämpchen zeigte jedoch Ausfall an.Ich berührte den Kontrollsensor und ließ den Lift lokalisieren: Eingangshalle.

Innerlich war ich froh, mich mal wieder bewegen zu können. Ohne die anderen Aufzüge abzulaufen betrat ich den Treppentrakt uns sprang, immer zwei Stufen nehmend, von Etage zu Etage.
Nur meine Schritte hallten über die laut schallenden Treppen aus geglättetem Beton. Ich wollte gerade ansetzen, ein Liedchen aus meiner Kindheit zu pfeifen, als mir die Kontrollkameras ins Auge fielen. Einer möglicherweise zu erwartenden psychoanalytischen Befragung wollte ich vorbeugen. In meiner Position gäbe es dafür keine Rechtfertigung. Ich habe ein Mensch nüchterner Logik zu sein! Gefühle beeinträchtigen nur mein Entscheidungsvermögen.

Während meiner Überlegungen drosselte ich gleichsam mein Tempo. Jetzt war ich wohl wieder das Abbild der Seriosität selbst.

Mehr gibt es zu diesem Tag - ich glaube es war der Einundzwanzigste - nicht zu sagen, außer, dass am späten Abend noch Warnstufe II ausgerufen wurde...
Dauernd wurde für diese Mittelung das Abendprogramm unterbrochen. Als ungewöhnlich empfand ich noch, dass sich der Telemediator nicht abschalten ließ: Johann, so nenne ich scherzhaft meinen Appartementcomputer, beließ den Bildschirm auf der Wartefrequenz, was ich an dem unaufdringlichen dynamischen Farbspektrum erkennen konnte. Meine Ruhe würde dieses bunte Gewalle jedenfalls nicht stören.

Wegen meiner allabendlichen Vier-Stunden-Schlaf-Droge bemerkte ich den Kommunikationsaufruf erst nach dem Wecken. Nach dem Drücken der Bereitschaftstaste erschienen die üblichen Ziffern auf dem Monitor: Datum, Uhrzeit, Appartementnummer, meine persönliche Kennzahl und zwölf weitere mir unbekannte Klassifikationskennziffern.
Welche Informationen würden sich dahinter verbergen?
Ich konnte nicht lange überlegen, denn es folgte die als wichtig deklarierte Meldung:

Band: Z 32.
Zustand: Überschreitung der Warnklasse.
Empfängerkreis: 200.150/e bis 350.000/k.
Ansprechzeit: variabel.
Achtung! Wichtige Information!
Die Smog-Warnstufe I wurde um 00:10 Uhr erreicht.
Grenzwertüberschreitung bereits 01:02 Uhr.
Steuerungsmaßnahmen eingeleitet.
Erläuterungen diesbezüglich über Anfragecode.
Ende der Information.


Mit dieser Mitteilung konnte ich nicht viel anfangen. Um ehrlich zu sein: eigentlich interessierten mich die Einzelheiten auch gar nicht. Mein Interesse galt lediglich meiner persönlichen Kennzahl.
Ich beauftragte Johann, die Internaufzeichnung abzurufen.
Eigenartig war, dass die mich beschäftigenden zwölf Endziffern in der Kopie fehlten.
Was war nur los mit mir? Woher sollte diese nervliche Überlastung kommen?

Als ich ins Büro wollte, stellte ich fest, dass mein Wohnappartement isoliert war. Das Videophon war tot, und Johann ließ nur über Anfragecode Befehle gelten.
Ich war also eingesperrt, abgeschieden, stumm und taub und blind...
Leider hatte man das Gefühl mir gelassen. Ich hatte Angst, eine grausige Angst, ohne eine reale Zuordnung treffen zu können.

Recht schnell hatte ich mich wieder gefangen. Über Anfragecode erfuhr ich zunächst, dass ich nur in begrenztem Umfange Informationen erhalten würde. Und diese Infos waren lediglich mein Verhalten betreffende Regeln, im Wesentlichen der Befehl, abzuwarten...
Fragen nach der Art oder der Ursache der vermeintlichen Bedrohung quittierte der Computer mit der lakonischen Leuchtschrift:

Nicht zulässig!.

Ich saß also in meiner Box. Die Fensterverdunkelung wurde nicht aufgehoben, und die Zimmerbeleuchtung war auf Sparschaltung geregelt, die Klimaanlage arbeitet auf Minimallast. Krampfhaft kramte ich in meinem Gedächtnis nach eventuellen Gründen. Ich las auch sehr viel in meiner altmodischen, letzt allerdings nützlichen, Papierbibliothek. Appetit hatte ich kaum, freute mich jedoch jedes Mal über das Funktionieren des Versorgungskanals bei der Auswahl von Speisen und Getränken.
Was konnte nur diese Situation ausgelöst haben?!
Mehr noch beunruhigte mich die Frage, ob unsere Gesellschaft überhaupt ohne mich funktionieren kann. Was wäre, wenn sie ganz ohne Menschen auskäme???
Mir wurde übel bei dem Gedanken: Eine Datenpanne...?



Heute ist, glaube ich, der fünfte August. Dieses Warten ist zu einer elenden Qual geworden. Es gibt nur noch ein Essen, die sogenannte Katastrophenration und dazu vollsynthetischen Orangenjuice. Spartanisch!
Mehrmals täglich gibt es Stromausfälle. Johann ist inzwischen völlig verstummt. Ich habe Angst, dass sich dieser zustand bis zum Extremum verschlimmern wird.

Erster September. Seit drei Tagen ohne Essen. Gestern hatte ich mir noch eine Kanne Wasser abfüllen können. Ich teile mir das kostbare Nass gut ein, ...will drei, vier Tage reichen.
Die Luft ist unerträglich geworden. Wenn ich nicht schon zu schwach wäre, würde ich gegen die Wände rennen!

Ich schreibe "10. September", bin mir dessen aber nicht sicher. Mein Wasser hat bis vorgestern gereicht. Bin so müde.
Irgendwie spukt mir die Antwort auf meine Fragen durch den Kopf.
Ich kann die Gedanken nur nicht... nicht ordnen.
Umweltschutzprogramm, Zentraleinheit, Ursachenabschaltung, Ursache ...Mensch!

Ich hab' wohl mehrere Tage in einem Dämmerzustand gelegen. Mein Zeitgefühl ist völlig verkümmert. Schluss machen will ich aber nicht. Irgendwann wird man mich hier schon rausholen.
Bin ich müde!
Ich lege mich auch gleich wieder hin.
Schlafen, nur schlafen...

Freitag, 15. April 2011

Begegnung

(05/1984 aus "Die Treppe ins Jenseits")

Regen treibt mich unter das Dach der Wartehalle. Grauen Schnüren gleich tropft das Wasser vom Himmel.
Mir ist kalt, und dennoch hoffe ich, dass die Straßenbahn noch etwas auf sich warten lässt, damit ich nicht in den Guss muss, der sicher nur von kurzer Dauer sein wird.

Die Intensität lässt tatsächlich nach, und eine sofort aufkommende Helligkeit hebt meine Stimmung.
Ich suche die Sonne, die vergeblich gegen den allgegenwärtigen Dunst anzukämpfen scheint: Wenigstens kann ich die Richtung des Glutballs ausmachen...

Glitzernde Tröpfchen hängen an Bäumen und Sträuchern, ersetzen gleichsam die fehlenden Blätter.
An einem Zweiglein klettert ein winziges Insekt ins Licht, seine Behausung verlassend für ein bisschen wärmende Helle.
Ein Insekt...!
Jetzt erst wird mir die Bedeutung des Bemerkten klar: Ein Insekt.
In meiner Kindheit sah ich oft um die Lampe schwirrende Fliegen, hatte ich Angst vor Wespen und Bienen, Angst vor den juckenden Mückenstichen. Mein Vater erzählte mir von Libellen, die es einst gegeben haben soll. Fingerlang.
Ich muss mich schütteln.

Seltsamer Weise empfinde ich aber keinen Ekel vor diesem kleinen Ding, welches sich den Ast hochquält. Ich schleiche ganz nahe heran, um es besser beobachten zu können.

Ein Schauder überkam mich. Das winzige Ding hatte alle Symmetrie verloren. An Stelle der Flügel schleppte es eine riesige Geschwulst mit sich herum. Die Beine, deren schematischen Aufbau wir als Knirpse in der Schule zu lernen hatten, waren dicke Stummel. Der behaarte Hinterleib schien schmerzhaft verkrümmt...



Ich holte aus zum Schlag, wollte meinen Ekel verscheuchen, wollte das Ding erlösen, besann mich aber, als ich die filigranen Staubmuster auf dem Pflanzenstrunk sah: Das würde ich nie und nimmer berühren!
Ich lief schnell zurück zur Wartehalle und dachte darüber nach, wie wohl die Menschen in Zukunft aussehen würden...

Dienstag, 22. Februar 2011

Ein Erfinder

(04/1984 aus "Die Treppe ins Jenseits")

Schön finde ich mich nicht gerade, nur sehe ich momentan keine andere Lösung.
Mit diesem wilden Bart passe ich wohl ganz gut in einen historischen Film, in einen Film, vollgestopft mit Räubern und Vagabunden, nur was sollte ich machen?

Überall sehe ich mein Foto – beschlipst, gut gekämmt, eben gepflegt – in den Tageszeitungen, in allen Illustrierten, selbst in Schaufenstern, an Kiosken und (ich trau' es kaum auszusprechen) in Kneipen.
Ich bin also auf der Flucht vor meinem Gesicht, vor mir selbst.
Alle Kommunikationskanäle berichten unablässig über mich, über meine Erfindung…

Die Welt schient wieder heil zu sein, teils wegen meines Patentes, teils wegen des Besitzes eines vermeintlichen Idols. Nur, ich bin nicht für diesen Rummel um meine Person, und offensichtlich bin ich sogar erfolgreich mit meiner Maskerade: In der Metro rückt man von mir ab und Ordnungshüter verlangen laufend meine Kennummer (natürlich ohne Positivergebnis im Fahndungsregister).
Glücklich die Welt, die ohne Namen auskommt! Nur Idole bekommen Namen…, jedenfalls für die Dauer der Anbetung.

Sollte man mich irgendwann einmal enttarnen, würde sicherlich die Suizidrate enorm emporschnellen. So, wie meine Erfindung das Glück bringt, würde meine Person nur neue Tragik hervorrufen. Ich bin aber nun einmal kein Rampenlichtmensch!
Meine neue Identität wird sich festigen, meine Maske wird zur personengebundenen Tatsächlichkeit werden. Kein Anbeten mehr!
Für den Fall, dass diese Zeilen einst gefunden werden: Ich bin 057-22.1124(1)3/194, genannt „Der große Retter“.
Falls dieses Schriftstück so viele Tempoperioden überdauern sollte, dass sich niemand mehr meiner Erfindung entsinnt, einige kurze Erläuterungen dazu:

Es handelt sich um eine bahnbrechende Idee, die der allgemeinen Desensibilisierung unserer Zeit entgegenwirken wird. Das gegenwärtige Straßenbild ist je gekennzeichnet von träge dahin fließenden Autoschlangen. Deshalb wurde der Ausbau separater Gleisstrecken dieser rasenden Elektrozüge forciert. Die Vorteile sind jedem einleuchtend.
Einziger Nachteil: rapider Anstieg der Unfallhäufigkeit unaufmerksamer Passanten.

Ich habe nun ein Pulverchen synthetisiert, welches Hämoglobin augenblicklich in einen grünen Farbstoff überführt. Den Fußgängern und Fahrgästen wird damit der schreckliche Anblick erspart…

In unserer Stadt grünt es jetzt wieder überall. Im Rahmen der Aktion „Grün muss in die Großstadt“ konnten sogar die letzten Schutzgitter abgebaut werden, was enorme Reserven bei der Sekundärrohstofferfassung erkennen ließ.

Ich bin stolz auf meine Erfindung, aber viel zu bescheiden, den Ruhm zu genießen. Lieber bleibe ich anonym und tüftel in aller Ruhe neue Verbesserungen aus. Momentan bastel ich an einer Ampel zur Regulierung der Bevölkerungsdichte, Erfindungsvoranmelde-Nr. c11/294-e²(31).
Vorausschauend werden an den Ampelschäften natürlich gleich Selbstbedienungsbehälter für Grünstaub® vorgesehen.

Dann werden wir bald in einer grünen Oase leben…











Freitag, 18. Februar 2011

Frühsymptome oder die ungerechte Selektion

(01/1984 aus "Die Treppe ins Jenseits")

Ich bin noch immer bei meiner alten Angewohnheit, allmorgendlich zu Fuß zur Arbeit zu gehen, obwohl seit Jahren die günstigen Kabinentaxis jeden beliebigen Ort in unserer Stadt ansteuern. Der Weg ist alles andere als schön, aber die kühle Morgenluft vertreibt mir den Schlaf aus den matten Gliedern. Kurz vor dem Aus-dem-Haus-Gehen höre ich regelmäßig den Wetterbericht der Sieben-Uhr-Nachrichten, wobei ich längst bemerkt habe, dass die fälligen Meldungen des Luftüberwachungsdienstes seit langem ausbleiben.

Nicht wenige meiner Kollegen und Bekannten werten dies als Verbesserung der Luftqualität. Ich weiß es besser, denn meine Nase ist ein ausgezeichneter Detektor, und bei Überlastung selbiger schaltet sich das System Augen hinzu. Meist erscheine ich dann vertränt im Büro, wobei die Salzbäche der gereizten Sinnesorgane dunkle Spuren auf den eingecremten Wangen hinterlassen.

Die Luft steht still, wird nur durch die vorbeirasenden Verkehrsmittel durchwirbelt. Nässe, die auf allen Gegenständen angesiedelt scheint, spritzt hoch, wird durch den Sog der Fahrzeuge ein Stück mitgerissen. Tropfen, fein zerstäubt, folgen den Gesetzen der Schwerkraft und tauchen in die Anonymität der Pfützen zurück. Einige finden Halt an lackierten oder verchromten Karosserien und werden kilometerweit fortgetragen, um mit anderen Millionen Tröpfchen immer wieder neue Rinnsale und Lachen zu bilden.

Ich trete unter dem Vordach unseres Hauseinganges hervor, begebe mich selbst in dieses monströse Aerosol aus Dreck und Nässe. Mein Cape verhüllt meine Stirn. Die linke Hand ist tief in den Ärmel eingezogen, um den frischen Verband vor dem Schmutz zu bewahren. Rechts trage ich meinen Aktenkoffer, der mir heute besonders schwer vorkommt, da auch hier die ersten Hautfalten und Fingergelenke einzureißen beginnen, und somit vom Griff ein brennender Schmerz ausgeht.
Die Ärzte stehen diesem Leiden ohnmächtig gegenüber, verordnen mildernde Salben, schützenden Cremes… Erfolglos!

Eigentlich habe ich aber noch nicht zu klagen. In den Sprechstunden sah ich weitaus schlimmere Fälle: wimmernd saßen Patienten im Wartezimmer, nur noch auf die euphorisierende Spritze wartend, hoffnungslos mit ihren Ekzemen zu langsamen Siechtum verurteilt.

Ich versuche mich abzulenken, blicke in die entgegenkommenden Autoscheinwerfer und lasse mich von den Reflektionen auf der nassen Straße faszinieren. Geblendet von der Lichtfülle der gelblichen, Wärme ausstrahlenden Lampen, vergesse ich einen kurzen Moment die eintönig graue Straßenkulisse, hinter deren Fassaden ich mir die kalten, sterilen Räume vorstelle, alle getaucht in gleißendes Neonlicht.
Heruntergedrückte Rauchschwaden vernebeln für Momente die Sicht, um danach neue heranrasende Lichtpunkte aus dem Schleier zu enthüllen.

Als ich im Büro ankomme, empfängt mich schon der Duft von frischgebrühtem Kaffee, einem Spitzenprodukt unserer chemischen Industrie. Freundlich werde ich begrüßt, ohne dass man mir jedoch die Hand reicht.
Als ich meine Pelerine in den Schrank hänge, spüre ich die vielsagenden, mitleidigen Blicke im Rücken, auf mich gerichtet, auf meinen weißen Verband…
Niemand spricht darüber. Jeder vermeidet in meiner Gegenwart jedwede Gespräche zu irgendwelchen Krankengeschichten.
Als ich etwa eine Stunde später im Waschraum den obligaten Verbandswechsel vornehme, den ich mittlerweile perfekt einhändig beherrsche, bemerke ich, dass sich die Haut jetzt schon bis zu den Ellbogen in dunklen trockenen Schuppen abzulösen beginnt.

Von jetzt an werde ich mich in der Kabine einschließen, wenn ich den Verband wechseln muss.