Freitag, 15. April 2011

Begegnung

(05/1984 aus "Die Treppe ins Jenseits")

Regen treibt mich unter das Dach der Wartehalle. Grauen Schnüren gleich tropft das Wasser vom Himmel.
Mir ist kalt, und dennoch hoffe ich, dass die Straßenbahn noch etwas auf sich warten lässt, damit ich nicht in den Guss muss, der sicher nur von kurzer Dauer sein wird.

Die Intensität lässt tatsächlich nach, und eine sofort aufkommende Helligkeit hebt meine Stimmung.
Ich suche die Sonne, die vergeblich gegen den allgegenwärtigen Dunst anzukämpfen scheint: Wenigstens kann ich die Richtung des Glutballs ausmachen...

Glitzernde Tröpfchen hängen an Bäumen und Sträuchern, ersetzen gleichsam die fehlenden Blätter.
An einem Zweiglein klettert ein winziges Insekt ins Licht, seine Behausung verlassend für ein bisschen wärmende Helle.
Ein Insekt...!
Jetzt erst wird mir die Bedeutung des Bemerkten klar: Ein Insekt.
In meiner Kindheit sah ich oft um die Lampe schwirrende Fliegen, hatte ich Angst vor Wespen und Bienen, Angst vor den juckenden Mückenstichen. Mein Vater erzählte mir von Libellen, die es einst gegeben haben soll. Fingerlang.
Ich muss mich schütteln.

Seltsamer Weise empfinde ich aber keinen Ekel vor diesem kleinen Ding, welches sich den Ast hochquält. Ich schleiche ganz nahe heran, um es besser beobachten zu können.

Ein Schauder überkam mich. Das winzige Ding hatte alle Symmetrie verloren. An Stelle der Flügel schleppte es eine riesige Geschwulst mit sich herum. Die Beine, deren schematischen Aufbau wir als Knirpse in der Schule zu lernen hatten, waren dicke Stummel. Der behaarte Hinterleib schien schmerzhaft verkrümmt...



Ich holte aus zum Schlag, wollte meinen Ekel verscheuchen, wollte das Ding erlösen, besann mich aber, als ich die filigranen Staubmuster auf dem Pflanzenstrunk sah: Das würde ich nie und nimmer berühren!
Ich lief schnell zurück zur Wartehalle und dachte darüber nach, wie wohl die Menschen in Zukunft aussehen würden...