Freitag, 10. Dezember 2010

Die erste Zeitreise

(07/1984 aus "Die Treppe ins Jenseits")

Der letzte Handschlag war getan.
Zufrieden, sich selbst und sein Werk bewundernd, stand Dr. rer. nat. F. Sober vor seiner fertiggebauten Maschine. Betriebsbereit summte im Leerlauf der Temporator.

Sober wäre am liebsten sofort eingestiegen in diesen Käfig aus blanken Kupferrohr, um eine kurze Testfahrt zu unternehmen, vielleicht zwei, drei Wochen voraus, aber das passte wenig zu seinem pedantischen Sicherheitsbestreben.
Sorgsam nahm er die Liste zur Hand, die die Aufstellung aller unentbehrlichen Dinge enthielt. An jede Eventualität war gedacht.
Er las sich selbst jede Position laut vor, verstaute das Genannte und hakte Punkt für Punkt ab:
Verpflegungsration für fünf Tage, Allwetterkleidung, Waffen diverse, Videoausrüstung, Signalraketen, historische, genauestens datierte Karten der näheren Umgebung, ein altes mundartliches Lexikon.
Kiste Nr. 1 war vollständig und wurde im Gepäckbereich verstaut.
In die zweite Kiste kamen das wichtigere Werkzeug, eine Miniaturwerkstatt mit Energieblock, Fachliteratur und natürlich seine eigenen wissenschaftlichen Aufzeichnungen.
Die dritte Kiste blieb allein dem Reservetemporator vorbehalten, dieser, seiner empfindlichsten Apparatur, dem Herzstück der Maschine.

Nochmaliger Listencheck: alles OK!
Zitternd stand er vor seinem Lebenswerk, das jetzt abfahrbereit war. Die vierte Dimension stand ihm offen. Er hatte sich alle Naturgesetze unterworfen, zu Nutze gemacht. Der Traum eines H. G. Wells oder eines Oswald Levett würde zur Realität werden. Phantastisch!
Ein Grinsen flog über sein Gesicht, als er an das Schicksal des Erasmus Büttgemeister dachte. Ein literarisches Heldenschicksal?
Nein, dilettantische Unvorsichtigkeit, geblendet von der eigenen Idee!
Ihm konnte so etwas nicht passieren.
Sober hatte aber auch alle philosophisches Probleme seiner kommenden Zeitreisen hartnäckig verdrängt. Seine Überlegungen galten lediglich seinem eigenen Schicksal. Was wäre, wenn er in der Zukunft sterben würde? Er wäre verschollen vom Zeitpunkt der Abreise.
Wie wäre es aber mit der Vergangenheit? Wäre dann nicht seine ganze Existenz getilgt?
Er tat das als ganz unnötige Überlegung ab. Unnötig, weil für einen Felix Sober unzutreffend, außerhalb jeder Wahrscheinlichkeit...

Er würde nur die Zeit durchreisen, räumlich gefesselt an die bestehenden Örtlichkeiten. Durch das durch ihn entdeckte 'Massenunbestimmtheitstheorem ungleicher Zeitvektoren' bot seine Maschine Sicherheit bei allen erdenklichen Situationen, wie Erdbeben, Flutwellen und weit Schlimmeres. Körper verschiedener Zeitdynamik würden sich durchdringen, ohne irgendwelche Kräfte und Felder wirken zu lassen. Die Gefahrenvariante war gleich Null!
Bei einem beabsichtigten Halt könne er vor Synchronisierung der Zeitdynamik die Umgebung gleichsam im Zeitraffertempo inspizieren. Alle erdenklichen Bedrohungen lauerten lediglich im dreidimensionalen Raum, also nur bei Stillstand der Maschine.

Der Zeitpunkt der Abreise stand unmittelbar bevor. Die allererste Reise sollte ganz im Stillen erfolgen. Den Ruhm für die jahrelange Arbeit könne er später noch genügend auskosten.
Sober bestieg sein Gefährt. Ein wahrhaftiges Wunderwerk!
Er befühlte die Armaturentafel, als sei der Apparat ein unbekanntes, aber irgendwie vertrautes Wesen. Zärtlich strich er über die Skalen und polierten Tasten. Dann rutschte er solange auf dem Sitz herum, bis er glaubte, die bequemste Haltung gefunden zu haben. Die Zieldatierung wurde auf minus einhundert Jahre eingestellt: NEG 3.1536 EE09.
Sober blickte auf die Borduhr, danach auf die im Zimmer aufgestellte Vergleichsuhr. Beide liefen synchron, zeigten 11:51 Uhr.
Als er den Startknopf drückte war es genau 11:51:58 Uhr. Pedantisch wie er war, entging ihm nicht, dass die nächste Sekunde etwas verfrüht in der Vergleichsuhr angezeigt wurde. Ein Freudentaumel überwältigte diese von Logik durchdrungene, sonst so emotionslose Rechnergestalt: Es klappt!
Komisch war nur, dass sich die Maschine erst fast unmerklich, jetzt immer schneller, von der Zimmeruhr entfernte. Die Schrecksekunde hatte er erst überstanden, als er reibungslos durch die Gemäuer glitt: Der Raum!
Sober hatte nicht bedacht, dass er ja im Raum fixiert war, wogegen die Erde rotiert, mit etwa dreißig Metern pro Sekunde um die Sonne rast, die Sonne um das Galaxiezentrum zieht und und und...

Er glitt mit seinem Apparat in den freien Raum.
Ein unverzeihlicher, nicht korrigierbarer Fehler war ihm unterlaufen. Er hatte die Relativität der Bewegung als Absolutum akzeptiert!
Er sah die Erde noch als kleinen blauen Punkt, als er darauf kam, dass eine Korrektur dieser multivektoriellen Bewegung ausgeschlossen sei, da sich nichts, außer ihm im räumlichen Stillstand befand.
Angstschweiß bedeckte seine Stirn, die feuchten Finger klammerten sich an die Armlehnen, als er die Sonne oder irgendeine Sonne auf sich zukommen sah.

Geblendet schließt er die Augen, gemartert von dem noch immer unerträglichen Licht von vor zehn Jahren...

Sober will umkehren, doch dann wäre für einen unermesslich kurzen Moment der Zeitvektor relativ zur Umgebung gleich Null, also synchron, was Verlust der schützenden Zeitblase bedeuten würde. Als Selbstmordvariante sicher interessant, aber will er denn sterben?!

Nein, Sober gibt nicht auf. Er will an den Ursprung allen Seins. Mit der letzten Willenskraft dreht er den Beschleunigungsregler bis ans Maximum.

Als er wieder die Augen öffnet, sieht er das Universum mit all seinen Lichtpünktchen wild durcheinanderrasen, etwas später zu einem homogenen Schwarz werden. Die Borduhr zeigt 12:20 Uhr, als er nicht einmal mehr die Tiefe des Raumes erahnen kann...