Donnerstag, 8. August 2013

Alptraum

(1984 aus "Die Treppe ins Jenseits")

Gerade ertönt das Zeitzeichen aus den Lautsprechern über den Köpfen der Menschentraube vor den Kaufhauseingängen: "Beim letzten Ton des Zeitzeichens war es genau fünf Minuten vor zwölf."
Lautlos gleiten die riesigen Türen auseinander. Ein Gequirle unzähliger Leiber quillt ins Innere des würfelförmigen Klotzes. Unmittelbar im Eingangsbereich ist die Menschenkonzentration am größten, und ständig kommen neue Wesen hinzu, schieben, werden geschoben, lassen sich ins Paradies einsaugen. Der Sog zieht die Menge zu den Treppen, Rolltreppen und Liften.
Ich möchte im Erdgeschoss eine Zeitung kaufen, aber Elbogen, fremde Körper, heißer Atem schieben mich in einen schmalen Gang. Ich verstecke meine Hände, recke den Hals in die Höhe, ständig hoffend, die dünnen textilen Gewebe um uns verhindern ein Verschmelzen aller Körper zu einer gallertartigen Masse, die dann durch Ritzen und Fugen dringen würde, dabei alles beschmierend und verkleisternd...
Zu spät diesem Gewirr noch zu entfliehen. Ich lasse mich widerstandslos in den Lift drücken; ein kurzer Gong, ab geht's. Beim Umschauen (ich drehe dabei meinen Hals so weit es geht) sehe ich nur in freudiger Erwartung glänzende Augen.

Als uns der Fahrstuhl ausspuckt erblicke ich weitere Menschen. Jeder späht nach Regalen, Ständen, Kassen. Da man nichts sieht, stellt man sich an, so diszipliniert, wie es eben geht. Aus den Fluren und Gängen strömen unterdessen weitere Menschen.
Ich stehe verkeilt, bewegungsunfähig. Ab und zu gleiten meine Schuhsohlen ein Stück vorwärts. Ein Packtisch kommt in Sicht (Ich muss wieder an meine Zeitung denken). Ich sehe wie sich die Anstehenden an den Paketen zu schaffen machen, diese in bereitstehende Palettenboxen stapeln, um gleich darauf ein Stück weiterzurücken...
Auch ich lege Pakete in Boxen, schnüre Pakete ein, lege Kartons in gefalztes Packpapier, packe verschweißte Zellophantüten in Kartons, tüte irgendetwas in Zellophan, verschränke Wellpappe zu Kartons, ...
Ekel steigt mir in den Hals, als mir bewusst wird, was wir da verpacken. Ich frage mich, wie das Ende der Schlange aussehen wird. Wer wird mich eintüten, zubinden, kaufen?

...möchte schreien, möchte rennen. Beides scheint zuerst unmöglich. Trotzdem: Ich kämpfe mich durch die Massen! Jetzt bin ich bei den Eintütern, den Verschnürern. Ich schlängele mich die Treppen hinunter von bösen Rufen verfolgt, quäle mich durch die Eingangstür, will schreien, werde aber nur von den Ankommenden beiseite gestoßen, ihre glänzenden Augen auf mich gerichtet, mitleidig aber glücklich, einen winzigen Augenblick eher an der Reihe zu sein...

Nun sitze ich vor dem Kaufhaus und kneife mich, um endlich aufzuwachen,
...und das schon eine ganze Weile lang.


Dienstag, 26. März 2013

Ein Blumenfreund

(04/1984 aus "Die Treppe ins Jenseits")

ZENTRALSTELLE FÜR BEGRÜNUNGSVERSUCHE
IN INDUSTRIELLEN BALLUNGSGEBIETEN
.
Diese Worte stehen, sich vom Grau des Institutsgebäudes abhebend, in überdimensionalen Lettern über dem Haupteingang.

Bevor ich eintrat sah ich mich aufmerksam um. Auch hier Begrünungsversuche: mickrige hölzerne Stäbchen steckten in der grauen Erde zu beiden Seiten des Portals. Zartgrüne Blättchen entfalteten sich in einer Nebelwelt, miniaturisierte Knöspchen zwischen graubelegten welken Blattresten, der Boden übersät mit trockenen krausen Zeugen der langwierigen Versuche...

Anheimelnd wirkte dieses "Grün" keineswegs. Es erzeugte eher eine Wehleidigkeit, ein Nostalgiedenken, eine Identifikation mit der brutalen Vergangenheit. Ich eilte die Stufen zur Tür hinauf, ließ mich in der Eingangshalle registrieren, steckte mir die Klemmkarte an die Jacke und lief zum Lift, nachdem die Vorhallentür auf mein Kärtchen reagiert hatte.

Der gespeicherte Magnetcode ließ den Lift in der dreiundzwanzigsten Etage halten. Eine weiche weibliche Computerstimme forderte zum Aussteigen auf. Ich bekam Lust, die Stimmenspenderin kennenzulernen...

Das vorprogtrammierte Öffenen der Glas- und Milchglastüren wies mir unverkennbar den Weg. Die Pictugramme an den Durchgängen konnte ich leider nicht entschlüsseln, die einzigartige Symbolik versetzte mich sogar in Erstaunen.
Vorerst endete mein Weg. Ich befand mich in einer kleinen Kammer und wieder war die zarte Stimme zu vernehmen: "Doktor Friedrichs! Bitte legen Sie Ihre Sachen ab. Sie haben sich jetzt einer Sicherheitsdusche zu unterziehen. Dieser Vorgang ist für Sie absolut ungefährlich. Ihre Magnetkarte behalten Sie bitte in der Hand."


Die Anweisungen befolgend begab ich mich in den Nebenraum mit dem Symbol für Strahlungsaktivität.
Während der Behandlung (ich konnte das am Aufleuchten eines kleinen Lämpchens mit dem Hinweis 'action' erkennen) betrachtete ich meine Magnetkarte.

Ein fürchterliches Gesicht glotzte mich an. Ich sah nicht sofort, dass das Abbild ja meine Züge trug: aufgenommen vor Betreten das Haupttores. Wie blöd man in manchen Situationen doch aussehen kann...!
Die Lampe erlosch. und eine weitere Tür tat sich auf. Ich schlüpfte in die bereitliegende Kombination mit dem großen G auf dem Rücken und einem kleineren auf der Herzseite.
Ich war also ab sofort als 'Gast' gekennzeichnet.
Während der Suche nach einer günstigen Befestigungsstelle für meinen Magnetkarte riet die Frauenstimme, diese in die linke Ärmeltasche zu stecken.

Ich kam zu einer Tür mit dem Symbol einer Pflanze. Ein Videoauge suchte meinen Körper ab und blieb dann auf meinen linken Oberarm gerichtet stehen. Lautloses Öffnen der Schleuse...

Wieder diese nicht lokalisierbare Stimme, bei deren Klang ich schon dachte, dass diese Frau vielleicht schon mehr als fünfzig Jahre tot sei. Die vormalige Wärme der Stimme wurde von meiner steril-kalten Umgebung vollständig absorbiert, so dass ich mir nun einen sabbernden Totenkopf vorstellte, der diese Laute artikulierte...
Mir fiel auf, dass ich auch nirgends einen Menschen sah. Ich beschleunigte mein Tempo, da eine ungewisse Unheimlichkeit mich frösteln ließ. Kalter Schweiß benetzte meine geliehene Bekleidung.




Jetzt..., jetzt stehe ich vor einer roten Tür. Gerade musste ich mein Notizbuch ablegen, aber ich denke, dass ich die kommenden Eindrücke auch so wiedergeben kann. Morgen werden diese dann in der Zeitung erscheinen, fettgedruckt meine Name, der Name dessen, der als erster über dieses Institut berichten wird.

Gerade erlosch das Licht. Ein irisierendes Rot strahlt von der Tür ab. Ein Teleskopauge kommt ganz dicht an mich heran. Als ich etwas zurückweiche, bemerke ich weitere in meiner Nackenregion. Angewurzelt stehe ich still. Ich fühle, wie eine winzige Nadel mein Ohrläppchen ritzt.
Rückzug aller Spione.
Öffnen der Tür...


Ein tropischer Garten tut sich auf. Exotische Gewächse, Orchideen; Lianen fesseln den Blick. Einen gewundenen Gang entlangschreitend beobachte ich die Pflanzen, ja ich studiere diese kleinen und großen Wunderwerke der Natur.
Bald bemerke ich, dass der Pfad zu Ende ist. Soll ich weitergehen, ins Dickicht hinein?

Etwas reißt mich in die Höhe. Ich bemerkte nicht den Schatten des Kranes über meinem Haupt, versunken in die Betrachtung..., Faszination des Augenblicks.
Aus der Vogelperspektive schaue ich auf einen Berg weißer Kombinationen, unordentlich herumliegend.
Deutlich bohren sich die vielen G durch die Netzhaut ins Gehirn...



Mittwoch, 6. März 2013

Eine Nacht in Frankfurt

(09/2007)

Endlich mal wieder ein Hotelzimmer, in welchem man nicht den Fernseher hört, wenn das Fenster geöffnet ist.
Pulsierendes Großstadtleben direkt vor dem Balkon: Straßenbahnen, Busse, rasende LKW, kleine Fahrzeuge, hastende Fußgänger. Gegenüber gleich der Bahnhof, untenrum ("faktisch und nicht fiktiv", danke G. K.) das Rotlichtmilljöh, durchsetzt von barfüßigen, sitzenden, babytragenden Bettlerinnen und mit nach Fusel und Urin riechenden Wohnungslosen.
Verloren scheint hier der Fremde aus Ostberlin auf der Suche nach einem schönen Abendessen mit der Option, nett beim Bier zu sitzen und weiter über Timothy Truckle zu lesen. Verloren deshalb, weil selbst bajuvarisch anmutende Bierstuben den Fokus auf eine andere Art der Kundenbetreuung legen...

Nach eineinhalb Stunden zickzackförmigen Irrwegs durch die Innenstadt (ist sie das hier wirklich?) endlich eine nette Kneipe (Verzeihung: Restaurant, Bar, Lounge) gefunden. Lebendige Rosen in der Vase, nette Atmosphäre, ein Deckenspot genau auf mein Buch gerichtet, dazu noch das "richtige" Bier.
Hier die Frage (im noch fast leeren Gastraum), ob man ja auch essen wird. Freundliche Bedienung nach Bejahen der obligaten Frage. Wie im Osten etwa?!
Nach dreißig Buchseiten und einem Liter Bier zwang der Hunger oder Appetit zum Blick in die Karte. Neben italienischen Köstlichkeiten, die sich dem kartoffelbornierten Berliner nicht so erschließen, war die Karte eher knapp gehalten. Zwischen Teigwaren und Nudelgerichten erschien allein ein Rumpsteak essbar. Alle Fans dieser Küche mögen mir nachsehen, dass ich schon immer beim Italiener Paillard ausgesucht hatte, und das konstant seit etwa 18 Jahren...
Nun ja, Schwein gab's nicht.
Leckerer Weißkäse (preiselbeergarniert) mit Weiß- und Mischbrot eröffnete das Abendessen. Dann kam das fünf Zentimeter dicke, auf Rauke gebettete Rindersteak. Unverfälscht. Saftig. Medium.
Lecker!
Nach zehn Seiten "Unterschenkel" noch ein Bier (heutzutage ohne die bei dieser Marke früher üblichen zehn Prozent Reis als Gerstenmalzersatz), Pinkeln, Aufbruch.

Der Rückweg gelang, direkt diesmal, in weniger als einer halben Stunde. Es ging vorbei an rotilluminierten Häusern, durch belebte Straßen, vorbei an überdurchschnittlich vielen "unerlaubt" geparkten schwanzverlängernden Nobelkutschen. Na klar, in diesem Viertel... Für den Besucher auch ungewohnt der Anblick der ungewöhnlich vielen schlipstragenden jungen Leute. Bankfurt?
"Mahlzeit!", wenn die die Väter der kommenden Generation werden.

Zurück im Hotel, geduscht, im Liegen noch irgendwas bis zur ersten Werbepause geschaut, abgeschaltet, ...alles abgeschaltet.
Tiefer Schlaf, ab und zu unterbrochen von extremen Krach. Blick zur Uhr: "Super! Ich kann ja noch weiterschlafen..."

Montag, 4. Februar 2013

Ostsee 2013

(01/2013)

Für uns Berliner lag ja die Ostsee schon immer 'oben', also im Norden, obwohl es ja hierbei schon ewig Missverständnisse gab und gibt, die wohl auch niemals ausgeräumt sein werden. Nämlich der Thüringer fuhr auch nach 'oben', obwohl er ja nach 'unten' fuhr, wenn Muttern Wäsche waschen sollte...
Die Wochenenden im Internat (und natürlich auch die Wochen drum herum) verbrachten wir trotzdem in guter Eintracht. Dialekte wurden gepflegt, der Eine oder Andere wurde wegen besonderer Ausdrücke ab und an veralbert (Feudel, Schrippe, aufwaschen, je nach dem...), gleichzeitig wurde per Wohnheimumfrage ermittelt, wie viele Bezeichnungen in der winzigen DDR für Bumskeulen (Typha latifolia) üblich waren. Fast achtzig (!) unterschiedliche Vokabeln haben wir ermitteln können. Einfach grandios!

Inzwischen haben alle Bärte (na ja, die Frauen noch nicht) und man ist nicht mehr so gut mit dem Durchsfensterklettern. Auch verträgt fast jeder nur noch die Hälfte Bier. Ein Hechtsprung nach zwei selbst destillierten und selbst gemixten Getränken? Fehlanzeige. Natürlich gibt es auch kein 'Mädchenflurverbot' mehr, und 'Bewährung vor dem Studium' in Leuna oder Buna werden kaum noch angedroht.
Die echte Freiheit hat uns erwischt, und das bereits vor über zwanzig Jahren.

Man kann nach Prag fahren, ohne an den Maximalumtausch von ČKr 60,- denken zu müssen. Man benötigt keine Zeiss-Objektive, Smalkalda-Werkzeuge oder Widiabohrer für den Naturalienhandel im sozialistischen Ausland. Und jetzt kommt's: Sogar die Fischköppe lassen einen heutzutage rein. Man muss auch nicht mehr im Stall der zeitweilig ausquartierten Hühner oder Hasen schlafen. Man muss sich nicht mit Edelerzeugnissen, die es meist nur in der Hauptstadt gab, einkaufen: Rostocker Pflaumenmus, Ketchup aus Werder, Cabinet, Spee gekörnt...
Allerdings gibt es da oben kein bitteres Hafenbräu mehr. Schade eigentlich.
Dafür stehen die sonst so maulfaulen Fischer auf ihren Kähnen auf der Warnow und quatschen die Leute voll, entweder leckere Fischbrötchen zum Preis eines Kleinwagens zu erwerben, oder Riesendorsche selbst einzufangen. Letzteres kostet fast nix, nur man muss eisgekühltes Beck's trinken, und dieser Preis ist wahrlich ziemlich hoch!

Es hat sich schon viel getan, auch wenn außerhalb der Saison 96 Prozent der Restaurants geschlossen sind. Die verbleibenden vier Prozent repräsentieren aber meist auch eine ganz passable Küche. Und eng wird es dennoch nicht, da sich ja gerade im Winter da oben Hase und Fuchs 'Gute Nacht' sagen. Aber mancher will das ja so.
Wird es zu voll, wird sogar abgereist!

Man muss sich da oben schon ganz schön was einfallen lassen, will man es immer (oder öfter, also immer öfter) voll haben. Auf die, die die Einsamkeit mögen, wird man dann verzichten (müssen), aber sind diese überhaupt die umsatzstarken Touristen? Na gut, Kurtaxe muss jeder blechen, auch wenn die Klos verschlossen sind, keine Mülleimer an der Promenade rumstehen, nicht genügend Schnee vorhanden ist.
Aber dennoch soll es immer schön voll sein. Da tummeln sich also Italiener mit Eis und Kaffee und Pizza, Dönerrestaurants gänzlich ohne Tischdekoration, Fischbratereien oder
-räuchereien mit eigenem Kutter neben beheizten Punschiglus, Bratwurstbuden, mobilen Sanddornglühweinverkäufern mit 'nem Schuss extra. Dauernd pendeln die Genüsse, hin- und hergerissen zwischen Omega-3- und Omega-6-Fettsäuren, Schweinefett und Alkohol.
Danach hat man immer noch Hunger und vertilgt im Kino eine riesige Popcornportion und 'n Flens. Der suchende Tourist, der nach einheimischen Bier fragt, wird zuerst mitleidig angesehen, ehe man kopfschüttelnder Weise verschämt zu Boden blickt.



Ein richtiger Wendehals ist aber weder traurig, noch nachtragend! Ich mag Euch da oben, Euren Wind, die Leere, die Kälte, das Gebrabbel, das Kopfschütteln und manchmal sogar die anderen Touris, die da durch die Lande irren, die lauten Berliner, die freundlichen Sachsen.
Nur, wen ich in Zukunft im einsamen Wald zum Zeichen des Friedens grüßen werde, überlege ich mir ganz genau, denn nicht noch einmal möchte ich angebrüllt werden: "Kenn mia unz?!".