Freitag, 18. Februar 2011

Frühsymptome oder die ungerechte Selektion

(01/1984 aus "Die Treppe ins Jenseits")

Ich bin noch immer bei meiner alten Angewohnheit, allmorgendlich zu Fuß zur Arbeit zu gehen, obwohl seit Jahren die günstigen Kabinentaxis jeden beliebigen Ort in unserer Stadt ansteuern. Der Weg ist alles andere als schön, aber die kühle Morgenluft vertreibt mir den Schlaf aus den matten Gliedern. Kurz vor dem Aus-dem-Haus-Gehen höre ich regelmäßig den Wetterbericht der Sieben-Uhr-Nachrichten, wobei ich längst bemerkt habe, dass die fälligen Meldungen des Luftüberwachungsdienstes seit langem ausbleiben.

Nicht wenige meiner Kollegen und Bekannten werten dies als Verbesserung der Luftqualität. Ich weiß es besser, denn meine Nase ist ein ausgezeichneter Detektor, und bei Überlastung selbiger schaltet sich das System Augen hinzu. Meist erscheine ich dann vertränt im Büro, wobei die Salzbäche der gereizten Sinnesorgane dunkle Spuren auf den eingecremten Wangen hinterlassen.

Die Luft steht still, wird nur durch die vorbeirasenden Verkehrsmittel durchwirbelt. Nässe, die auf allen Gegenständen angesiedelt scheint, spritzt hoch, wird durch den Sog der Fahrzeuge ein Stück mitgerissen. Tropfen, fein zerstäubt, folgen den Gesetzen der Schwerkraft und tauchen in die Anonymität der Pfützen zurück. Einige finden Halt an lackierten oder verchromten Karosserien und werden kilometerweit fortgetragen, um mit anderen Millionen Tröpfchen immer wieder neue Rinnsale und Lachen zu bilden.

Ich trete unter dem Vordach unseres Hauseinganges hervor, begebe mich selbst in dieses monströse Aerosol aus Dreck und Nässe. Mein Cape verhüllt meine Stirn. Die linke Hand ist tief in den Ärmel eingezogen, um den frischen Verband vor dem Schmutz zu bewahren. Rechts trage ich meinen Aktenkoffer, der mir heute besonders schwer vorkommt, da auch hier die ersten Hautfalten und Fingergelenke einzureißen beginnen, und somit vom Griff ein brennender Schmerz ausgeht.
Die Ärzte stehen diesem Leiden ohnmächtig gegenüber, verordnen mildernde Salben, schützenden Cremes… Erfolglos!

Eigentlich habe ich aber noch nicht zu klagen. In den Sprechstunden sah ich weitaus schlimmere Fälle: wimmernd saßen Patienten im Wartezimmer, nur noch auf die euphorisierende Spritze wartend, hoffnungslos mit ihren Ekzemen zu langsamen Siechtum verurteilt.

Ich versuche mich abzulenken, blicke in die entgegenkommenden Autoscheinwerfer und lasse mich von den Reflektionen auf der nassen Straße faszinieren. Geblendet von der Lichtfülle der gelblichen, Wärme ausstrahlenden Lampen, vergesse ich einen kurzen Moment die eintönig graue Straßenkulisse, hinter deren Fassaden ich mir die kalten, sterilen Räume vorstelle, alle getaucht in gleißendes Neonlicht.
Heruntergedrückte Rauchschwaden vernebeln für Momente die Sicht, um danach neue heranrasende Lichtpunkte aus dem Schleier zu enthüllen.

Als ich im Büro ankomme, empfängt mich schon der Duft von frischgebrühtem Kaffee, einem Spitzenprodukt unserer chemischen Industrie. Freundlich werde ich begrüßt, ohne dass man mir jedoch die Hand reicht.
Als ich meine Pelerine in den Schrank hänge, spüre ich die vielsagenden, mitleidigen Blicke im Rücken, auf mich gerichtet, auf meinen weißen Verband…
Niemand spricht darüber. Jeder vermeidet in meiner Gegenwart jedwede Gespräche zu irgendwelchen Krankengeschichten.
Als ich etwa eine Stunde später im Waschraum den obligaten Verbandswechsel vornehme, den ich mittlerweile perfekt einhändig beherrsche, bemerke ich, dass sich die Haut jetzt schon bis zu den Ellbogen in dunklen trockenen Schuppen abzulösen beginnt.

Von jetzt an werde ich mich in der Kabine einschließen, wenn ich den Verband wechseln muss.

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